Wednesday, May 04, 2016

Bibliotheken ohne Bücher, Kolumne 4/2015

2015 war meine Kolumne in den Büchereiperspektiven dem Thema "Bibliotheken ohne Bücher" gewidmet. Hier die vierte und letzte Ausgabe.

Sie denken bei "Bibliothek" als erstes an eine nach bestimmten Kriterien aufgebaute und geordnete Sammlung von Büchern und anderen Medien? Ich (trotz dieser Kolumne) jedenfalls schon. Der Begriff kann dennoch auch ganz anders verwendet werden. Was haben die folgenden Beispiele gemeinsam? Da ist einmal die Molekularbiologie mit der "Genbibliothek" oder "DNA-Bibliothek“: Das gesamte Genom (Erbgut) eines Organismus wird in Teilstücke aufgeteilt, in Träger-Organismen gespeichert und vervielfältigt, um so besser untersucht werden zu können. Vielleicht wie ein Wörterbuch, das man zerschneidet und so aufklebt, dass jedes Wort auf einem eigenen Stück Papier geschrieben steht?

Von "Programmbibliotheken" spricht die Informatik bei einer Sammlung von Unterprogrammen und Routinen, die Lösungen für wiederkehrende Problemstellungen beinhalten. Man muss also gängige Programmteile nicht jedes Mal neu erfinden. Das erinnert mich an die Vorlagensammlungen für Geschäftskorrespondenz oder einige Bewerbungsratgeber.

Selbst die Sammlung von abgespeicherten Webadressen in meinem Browser nennt sich "Bibliothek" – aber das sind ja schließlich auch "Bookmarks" (Lesezeichen).

Double Basses@Silent Stage.
Photo: Vienna Symphonic Library
Man kann aber auch Töne und Klänge "bibliothekisieren". Im Jahr 2000 gründete Herbert Tucmandl die Vienna Symphonic Library: Professionelle MusikerInnen nehmen in einem Tonstudio alle möglichen Tonfolgen in verschiedensten Besetzungen auf, die als Basis für neue Musik dienen können. Statt zum Beispiel für einen Werbejingle ein eigenes Symphonieorchester zu engagieren, kauft man also hier die fertigen Klangteile und setzt sie neu zusammen. "In gut einer Million kosiger Dateikojen [mittlerweile zwei Millionen, Anm.] dösen ebenso viele makellose, perfekt adjustierte Töne und Klänge aller Art in elektronischem Halbschlaf und warten darauf, von qualifizierten computerisierten Helfern zu klingendem Leben erweckt und dann von fachkundiger Hand und Sample für Sample zu etwas Größerem und vielleicht sogar etwas Großem vereint zu werden: zu einer Violinsonate etwa, einem Klaviertrio oder sogar einer kompletten Symphonie", so blumig beschrieb Stefan Ender diese Musikbibliothek in seinem "Standard"-Artikel aus dem Jahr 2004 (derstandard.at/1530476/). Als Bibliothekarin komme ich mir ja auch manchmal wie eine "qualifizierte computerisierte Helferin" vor.

Ist also eine Bibliothek einfach eine Ansammlung von Informationshäppchen jeglicher Art – ob Buchstabe, Gen, Melodie, Byte oder Code? Ist sie nicht immer mehr als die Summe ihrer Teile?


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