Saturday, August 04, 2018

Ein Jahrhundert Bibliothek. Kolumne 1/2018: Lesehefte

Im neuen Jahrgang dieser Kolumne [heuer unter dem Titel "Ein Jahrhundert Bibliothek"] werfen wir wieder einen Blick in die Geschichte: Welche Werkzeuge spielten im letzten Jahrhundert eine wesentliche Rolle für die bibliothekarische Arbeit? In der ersten Ausgabe steht ein Objekt im Mittelpunkt, bei dessen bloßer Erwähnung ich ein sentimentales "Oooh" von Ihnen zu hören glaube: das Leseheft. Denke ich an meine regelmäßigen Besuche mit meinen Eltern in der Stadtbücherei zurück, darf eine Szene nie fehlen: das sorgfältige Ausfüllen des Leseheftes zu Hause, in dem wir neben die gestempelte Signatur AutorIn und Titel eintrugen.

Die Idee des Lesehefts geht auf den deutschen Volksbibliothekar Walter Hofmann zurück. Es diente in den Zeiten, als es noch keine Freihandbereiche gab, als "künstliches Gedächtnis des Ausleihbeamten" und ermöglichte die individuelle Beratung der BenutzerInnen. Neben der bloßen Auflistung der Ausleihen notierten die BenutzerInnen eine persönliche Bewertung des Gelesenen und Buchwünsche. Anhand der gesammelten Lesehefte wurde die Lektüre bestimmter sozialer Gruppen wissenschaftlich analysiert. Das 1926 gegründete Institut für Leser- und Schrifttumskunde entwickelte daraus zum Beispiel eine "Lesertypologie nach Lebenskreisen" und eine "Lehre von den Leseantrieben". Für seine 1931 veröffentlichte Leserinnenstudie "Die Lektüre der Frau" wurde Hofmann mit dem Ehrendoktorat der Universität Leipzig ausgezeichnet. Der Bibliotheksschuldirektor Erich Thier veröffentlichte 1939 die nationalsozialistisch gefärbte) Arbeit "Der Gestaltwandel des Arbeiters im Spiegel seiner Lektüre".

Neben der Beratung der LeserInnen diente das Leseheft aber auch der Kontrolle. Edeltraut Milius notierte in einem Aufsatz über Walter Hofmanns Handhabung des Lesehefts: "Familienangehörigen ist die Mitbenutzung der Bücher nicht gestattet, weil dann die Bildungskontrolle im individuellen Sinne verloren geht." Was hätte Hofmann wohl zu den heutigen E-Readern gesagt, auf denen das Leseverhalten auf Sekunde und Absatz genau registriert werden kann?

Leseheft. Bild: Ursula Tichy, Gemeindebücherei Wimpassing

Übrigens: Ganz in die Vergangenheit können Lesehefte und Fristzettel auch in Zeiten von Lektüreblogs und "Social Reading" nicht verbannt werden. Just am Tag des Redaktionsschlusses für diese Kolumne fragte jemand in der Facebook-Gruppe Biblioadmin: "Es ist doch etwas Besonderes, wenn man eintragen kann und sieht, was man schon gelesen hat. Gibt es so was noch irgendwo zu kaufen?" Ja! Sie sind auch heute noch in 100er-Packs bei verschiedenen Bibliotheksausstattern erhältlich. In Design und Größe haben sie sich seit Hofmanns Zeiten kaum verändert.

Quellen

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