5. Juli 1916
Liebes Tagebuch, heute war ein aufregender Tag in der Bibliothek. Wir haben in allen Arbeitsräumen und im Lesesaal elektrisches Licht bekommen, sogar im Magazin! Unsere Kollegen, vor allem die Herren Professoren, haben ja schon oft die mangelnde Helligkeit beklagt. Die Petroleumlampen in unseren Bureaus, die mir immer schon ungeheuerlich vorkamen, waren bei den vielen Büchern einfach zu gefährlich. Kollegen aus anderen Bibliotheken, die mit der Gasbeleuchtung Erfahrung gewonnen haben, äußerten sich dahingehend, dass sie die Luft verderbe. Einige unserer Custoden sind geradezu enerviert – sie fürchten, dass durch die neue Beleuchtung unsere Betriebszeiten stark erweitert werden, wir aber nicht mehr Personal bekommen. Ich bin aber froh, dass unsere Vorgesetzten diesen Schritt in die Zukunft gewagt haben.
2. September 1966
Liebes Tagebuch, heute habe ich wieder meine alte Bibliothek besucht. Ich bin ja schon seit ein paar Jahren in Pension, aber ich schaue immer noch gerne vorbei und fachsimple ein bisschen mit den Jungen. Heute habe ich deutlich gemerkt, dass ich doch schon vom alten Schlag bin. Im Lesesaal gibt es nämlich etwas Neues: Leuchtstoffröhren. Meine Kollegen sind ganz begeistert, sie seien so modern und ein schlichter Kontrapunkt zur üppigen Einrichtung, aber ich finde die neue Beleuchtung mit einem Wort: scheußlich. Der historische Raum wird in seiner Wirkung auf die Menschen ganz verdorben.
Jeff Blum: Library Lamp, Flickr, CC-BY |
Liebes Tagebuch, was die Medizin doch für Fortschritte macht. Dass ich mit 150 Jahren noch die Geschehnisse in meinem Alltag aufzeichnen kann, hätte ich mir in meiner Jugend nie träumen lassen. Und schon gar nicht, dass ich dazu nicht Tinte und Papier brauche, sondern einfach einer kleinen Brosche an meinem Kragen diktiere... Die automatische Textanalyse hat ergeben, dass ich schon mehrmals über die Lichtverhältnisse in meiner Bibliothek geschrieben habe. So will ich es auch heute halten: Unsere Regierung hat mit den SomniluxianerInnen eine interstellare Vereinbarung getroffen. Diese haben kürzlich bei der Erdregierung um dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung angesucht. Sie schlafen 18 Stunden pro Tag und geben dabei Licht ab. Deswegen wurden ihnen Quartiere in allen öffentlichen Gebäuden angewiesen. Wie nannte man das in den 2010er Jahren? "Win-Win-Situation". Wenn im Lesesaal diese flauschigen Wesen herumschweben, ist das durchaus gewöhnungsbedürftig, das muss ich ehrlich zugeben. Die Frequenz des Lichtes ist aber äußerst angenehm und konzentrationsfördernd.
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